Manchmal, wenn Rosemarie Walter durch die Stadt läuft, rennt plötzlich mitten auf der Straße irgendein Kind auf sie zu, fällt ihr um den Hals und ruft: „Die Lesepatin! Das war immer so schön!“. Die 75-jährige Wahl-Hoferin ist eine der vierzehn Vorlesepatinnen und -paten, die jeden Dienstagnachmittag in der Stadtbücherei für Kinder lesen.
Bereits im Jahr 2002 hat Annerose Zuber, Korrespondentin des Bayerischen Rundfunks in Hof und studierte Bibliothekarin, das Vorlesepaten-Projekt in die Saalestadt geholt: „Ich hatte davon gelesen und habe den kostenlosen Vortrag, den die Stiftung Lesen angeboten hat, einfach mal hergeholt, weil ich sehr bücheraffin bin und dachte, da könnte Hof mitmachen“.
Tatsächlich stieß das Seminar der Stiftung Lesen, in dem es darum ging, wie man Vorlesespate wird, was wichtig ist beim Vorlesen und welche Bücher man wählen sollte, auf Interesse bei den Hofern – und zwar genau bei den Richtigen: Eine der Teilnehmerinnen war Bibliotheksassistentin Katharina Burkhardt von der Bücherei Hof. Sie hat auf das Seminar hin eine Vorlesepaten-Gruppe ins Leben gerufen.
„Zwei Leute habe ich mir direkt aus dem Seminar ‚gegriffen‘“, lacht Katharina Burkhardt. Ebenfalls eine Frau der ersten Stunde ist Rosemarie Walter. Sie war kurz zuvor neu in Hof angekommen und hat nach dem Tod ihres zweiten Mannes Familienanschluss gesucht – und bis heute sehr viel zurückbekommen für ihr Engagement.
Jeden Dienstagnachmittag um 16 Uhr sind alle Kinder (aber natürlich auch Erwachsene) eingeladen, einem der Vorlesepaten in der Stadtbücherei zu lauschen. Etwa 30 bis 45 Minuten lesen die Paten dann – und es kommen oft über 15 Zuhörer. Die Begeisterung für’s Vorlesen ist über die Jahre nicht nur bei den Gästen, sondern auch bei den Vorlesepaten gewachsen. Nachdem Katharina Burkhardt am Anfang noch für das Projekt werben musste, kann sie inzwischen auf einen Stamm aus 14 Vorlesepaten – zehn Frauen und vier Männer – zurückgreifen, die alle mit großer Begeisterung dabei sind, und „musste“ den zweiwöchigen Vorlese-Turnus zu einem wöchentlichen erweitern, damit jeder Vorlesepate oft genug drankommt.
Manche lesen allein, manche im Dialog mit einem anderen Vorlesepaten. Manchmal reichern die Vorleser ihren Vortrag mit Musik vom Band – oder sogar Livemusik, es waren auch schon Mitglieder der Hofer Symphoniker dabei – an; mal stehen komplette Bilderbücher, mal Auszüge aus einem Kinderroman auf dem Programm – ganz nach dem Gusto des jeweiligen Vorlesepaten. Sogar zweisprachige Lesungen, in deren Rahmen die Kinder die Möglichkeit haben, einen Text erst in Originalsprache und dann auf Deutsch zu hören, gibt es immer wieder.
„Die Bücher, aus denen ich vorlese, stammen fast alle aus meinem eigenen Bestand. Oft vergrößere ich Bilder aus dem Buch, aus dem ich lese, und zeige sie während der Lesung – aber erst nach dem entsprechenden Handlungsabschnitt, um zunächst die Fantasie der Kinder anzuregen. Außerdem schreibe ich teilweise die Originaltexte in kindgerechtere Sprache um. Und wenn die Kinder die 20 bis 30 Minuten Lesung schön ruhig durchgehalten haben, schauen wir zur Belohnung gemeinsam eins der 415 Pop-up-Bücher aus meiner persönlichen Sammlung an“, berichtet Rosemarie Walter. Jedes Mal aufs Neue macht sie sich so viel Mühe für eine Lesung, aber sie betont: „Das Vorlesen und die begeisterte Reaktion der Kinder machen sehr viel Freude – das hält jung!“.
Natürlich sind noch nicht alle Vorlesepaten so routiniert und erfahren wie Rosemarie Walther. „Daher gebe ich den Vorlesepaten, die es wünschen, Tipps, welche Lektüre geeignet ist. Und wir schaffen in der Bücherei auch neue Bücher an, wenn die Vorlesepaten zum Beispiel durch den Newsletter der Stiftung Lesen auf ein bestimmtes Buch aufmerksam wurden“, sagt Katharina Burkhardt. Etwa alle zwei Jahre bietet sie für die Vorlesepaten ein Vorleseseminar mit einem externen Leiter an. „Das ist selbst für die „alten Hasen“ gut, denn jeder hat einen anderen Ansatz, mit dem Vorlesen umzugehen, sodass man jedes Mal etwas Neues mitnehmen kann“, weiß Katharina Burkhardt.
Dass wirklich jeder Vorlesepate werden kann, beweist die Tatsache, dass der Gruppe inzwischen sogar zwei Migranten angehören, für die Deutsch nicht ihre Muttersprache ist. „Von ihnen wird schon mal etwas falsch ausgesprochen oder betont, aber die Kinder sind da sehr tolerant“, so die Bibliotheksassistentin.
Die Höhepunkte im Vorlesejahr sind neben den wöchentlichen Vorlesestunden am Dienstag die beiden Vorlesetheater-Aufführungen: Sowohl für den Weltkindertag im September als auch für den Advent bringt Rosemarie Walther jeweils ein Kinderbuch in Dialogform mit möglichst vielen Rollen. Dann treten viele Vorlesepaten gemeinsam in Interaktion – zur größten Freude ihrer kleinen Zuhörer.
Auf die Frage, was man vorlesen sollte, antwortet Katharina Burkhardt: „Es muss nicht immer das pädagogisch wertvollste Buch sein: Hauptsache ist, die Lust am Lesen zu zeigen! Und die Kinder profitieren in jedem Fall, denn Satzbau und Formulierungen sind in jedem Text anders, sodass die Kinder immer etwas Neues (kennen)lernen können.“ Und Rosemarie Walther resümiert: „Das Vorlesen ist ein Geben und Nehmen – eine Lebensaufgabe!“
Wer auch gern Vorlesepate werden möchte, kann sich bei Katharina Burkhardt unter katharina.burkhardt@stadt-hof.de melden. Christine Wild