Manchmal hat Doris Tuckermann-Mündel ein Déjà-vu: Wenn sich Kundinnen mit ihren Kindern bei der Brio-Eisenbahn niederlassen und mit ihnen die Züge über die Holzgleise schieben, wird Tuckermann-Mündel das Gefühl nicht los, genau diese Situation vor vielen, vielen Jahren schon einmal erlebt zu haben. Und so falsch liegt sie damit in der Regel gar nicht. Denn die Mütter, die heute mit ihren Kindern bei „Steinboss“ in der Hofer Marienstraße einkaufen, spazierten oft genug vor 20 bis 30 Jahren selbst noch an Mutters Hand zur Tür herein.
Auf die Idee, ein Spielzeug-Geschäft zu eröffnen, kam Doris Tuckermann-Mündel vor 33 Jahren mehr oder weniger durch Zufall. Sie hatte Porzellanmalerin gelernt, wollte aber nach der Schulzeit nicht in der Industrie arbeiten. Zusammen mit ihrem Ehemann fertigte sie damals Ziegelbaukästen, mit denen sich Kinder am Mauern versuchen konnten. Weil das Ehepaar zu dieser Zeit in Marktleuthen „Am Steinboss“ wohnte und dieser Name gut zu den Ziegeln passte, wurde die Geschäftsidee kurzerhand „Steinboss“ getauft.
Die Baukästen, die sich damals großer Beliebtheit erfreuten und auch von anderen Geschäften verkauft wurden, gibt es längst nicht mehr. Doch der daraus entstandene Spielzeugladen „Steinboss“ ist heute, 33 Jahre später, der „letzte Überlebende“ seiner Art in Hof.
Vieles hat die rührige Inhaberin in dieser Zeit ausprobiert und später, wenn die Nachfrage abebbte, wieder verworfen. Eine Zeitlang verkaufte Doris Tuckermann-Mündel Webstühle und Spinnräder und gab auch Kurse in der Handhabung dieser Geräte; später fertigte sie Puppen, die es nicht nur in ihrem, sondern auch in anderen Geschäften zu kaufen gab. Auf die Puppen folgten Kinderkleider, selbst entworfen und genäht, die so großen Anklang fanden, dass sie irgendwann Kleidung zukaufen musste.
Doch eines blieb über all die Jahre gleich: Doris Tuckermann-Mündel bietet Spielzeug an, das sich von der Masse abhebt – „gutes, kreatives und die Fantasie anregendes Spielzeug“, wie sie selbst sagt. Dabei gilt: „Weniger ist oft mehr.“ Weil immer die schickste, neueste und modernste Ware her muss, finde sich in so manchem Kinderzimmern nur noch Schrott. Tuckermann-Mündel ist überzeugt, dass durch „Knopfdrückerei“ Kreativität und Fantasie der Kinder abgetötet werden; dass Kinder keine Lernprogramme brauchen, sondern Erwachsene, die sie zum Spielen und Welt-Entdecken motivieren. Außerdem möchte sie zwischen Kind und Natur vermitteln.
Wer durch ihren Laden schlendert, findet verschiedenstes anregendes und hochwertiges – aber nicht unbedingt teueres – Spielzeug für jede Altersklasse; vom ersten Babyspielzeug bis hin zu Holzbausteinen, vom Detektivkasten bis hin zum Solarzeppelin, von Murmeln bis hin zu Balancierbrettern oder Stelzen. Auch Bücher, Kaufladen-Zubehör, Puppenhäuser und sogar einige Kinder-Möbel gehören zum Sortiment.
Heutzutage in einem relativ kleinen Geschäft mit rund 150 verschiedenen Lieferanten zusammenzuarbeiten, würde wohl so mancher Geschäftsmann als kaufmännisches Desaster bezeichnen. Aber Tuckermann-Mündel sucht sich überall die schönsten Dinge aus. „Ich kann nur verkaufen, wozu ich auch stehe. Natürlich könnte ich mit anderen Waren viel mehr Geld verdienen – aber ich will abends noch in den Spiegel sehen können.“ Das gilt nicht nur für die Auswahl der Spielsachen, sondern auch deren Qualität: „Was nutzt ein großes Set Sandspielsachen für 5 Euro, wenn alle Teile gleich kaputt gehen. Ich verkaufe lieber einen guten Sandeimer, der jahrelang hält.“
Bisher hat noch jedes Kind in dem wunderschönen, geheimnisvollen und verwinkelten Laden etwas nach seinem Geschmack gefunden. Und die Inhaberin liebt es, ihnen dabei zuzusehen: „Kinder sind sowas Tolles, Offenes und Freies. Sie sehen, fühlen und hören noch Dinge, die wir als Erwachsene längst nicht mehr bemerken.“
Dazu gehören auch die Vögel, die im Büro hinter dem Laden herumturnen, schöne Lieder zwitschern, und von manchem Erwachsenen gar nicht gleich wahrgenommen werden. Kindern dagegen bleiben sie selten lange verborgen. Tiere sind der Einzelhändlerin ein geliebtes Hobby und ein willkommener Ausgleich zur Arbeit im Laden. In ihrem „Paradies“ in Oberprex züchtet sie zusammen mit ihrem Mann Hühner, Kaninchen und Wachteln und beherbergt auch andere schöne Tiere wie beispielsweise Fasane.
Zur Osterzeit hoppeln deshalb schon seit 25 Jahren echte „Osterhäschen“ durch das Schaufenster in der Hofer Marienstraße, die alle Jahre wieder nicht nur Kinderherzen höher schlagen lassen. Natürlich habe sie ab und an überlegt, sich die Arbeit des Stall Auf- und Abbauens im Schaufenster zu sparen. Aber auch in dieser Sache können sich die Kunden auf sie verlassen: „Tradition ist Tradition“. Und die Arbeit macht Doris Tuckermann-Mündel schon ihr Leben lang Spaß – im Laden wie zuhause.
Wachteleier, Wachteleier-Likör, Pakete mit wunderschönen, schillernden Vogel-Federn und viele andere schöne und leckere Geschenk-Ideen gibt es ebenfalls in ihrem Laden zu kaufen. Nach der Arbeit im Geschäft zieht es Doris Tuckermann-Mündel in der Regel erst einmal in den Stall. Tiere bezeichnet sie als „Seelenbalsam für den Menschen“.
Und nach 33 Jahren im Spielzeugladen kennt sie sich natürlich nicht nur mit Spielsachen aus, sondern auch mit Seelen. Denn oft genug ist sie ihren Stammkunden nicht nur Verkäuferin, sondern auch Seelsorgerin: „Ich versuche gerne, Eltern den Zeitdruck zu nehmen, der heute ständig auf ihnen lastet“. Manchmal betätigt sie sich auch als Vermittlerin zwischen den Generationen.
Lange nicht gesehen und doch gleich wieder erkannt, ist oft das Motto, wenn Großeltern mit ihren Enkeln zum Einkaufen kommen. „Die waren schon früher mit ihren Kindern da und freuen sich, dass sie jetzt wieder kommen dürfen.“ In solchen Fällen wird nicht nur eingekauft, sondern auch viel geredet und gelacht. Und wenn heute Kundenkinder der ersten Stunde mit ihren eigenen Kindern in den Laden kommen, und Tuckermann-Mündel aufgrund der oft frappierenden Ähnlichkeit im Umgang zwischen Mutter und Kind sofort die Bilder von früher vor Augen hat, ist ihr das der schönste Lohn dafür, dass sie ihrer Linie über 30 Jahre lang treu geblieben ist. Sandra Langer